von Alice Hollenstein*
Belebte Strassen. Eine Sitzbank, die zum Verweilen einlädt. Wiesen, auf denen gespielt und gelacht wird – der öffentliche Raum ist das Fundament einer nachhaltigen Stadt. Doch wie und wer sorgt dafür, dass wir uns gerne an einem Ort aufhalten? Ein Blick auf die Aussenräume der Genossenschaft Kalkbreite. Ob wir uns an einem Ort wohlfühlen, entscheiden wir meist schnell und intuitiv. Dennoch gibt es Faktoren, die zu diesem Entscheid beitragen. Bevor ich Ihnen von meiner architekturpsychologischen Sicht auf die Aussenräume der Genossenschaft erzähle, möchte ich Ihnen diese Faktoren näherbringen. Dadurch können Sie meine Sicht nicht nur besserverstehen, sondern vielleicht Orte in Ihrer Umgebung aus einer neuen Perspektive betrachten.
Die Aufteilung des Raums
Damit eine Wohnüberbauung belebt wird, bewährt es sich, sie in drei territoriale Schichten einzuteilen: privat, gemeinschaftlich, öffentlich. Alle drei Schichten sind wichtig, da sie unterschiedliche Funktionen erfüllen. Öffentliche Räume sind allen zugänglich, gemeinschaftliche können von den Mieterinnen und Mietern gemeinsam genutzt werden, und private Flächen sind einzelnen Mieter/innen vorenthalten. Mit zunehmender Privatheit steigt das Ausmass der Kontrollierbarkeit und in der Regel auch der Aneignung.
Menschliche Bedürfnisse
Wie gerne ein Ort genutzt wird, hängt davon ab, inwieweit er auf menschliche Bedürfnisse eingeht. Hier wird zwischen physiologischen, individuellen und sozialen Bedürfnissen unterschieden:
Physiologische Bedürfnisse
— Schutzbedürfnisse: Schutz vor Verkehr, vor Kriminalität und negativen Sinneseindrücken wie Hitze, Nässe, Kälte, Wind, Lärm, Feinstaub, schlechten Gerüchen.
— Erholung: Orte zum Sitzen und Entspannen. Gerne begrünt, da Pflanzen den Erholungswert fördern.
— Kinderfreundliche Umgebung: Idealerweise können Kinder ihren Aktionsradius selbstständig erweitern.
Individuelle Bedürfnisse
— Effizienz: Einfache, intuitive Zugänglichkeit der Räume. Steigende Distanz und Anzahl Richtungswechsel mindern die Wahrscheinlichkeit, dass ein Ort besucht wird.
— Selbstbestimmung: Möglichkeit, den Raum mitzugestalten und ihn dann zu nutzen, wenn ich will.
— Angenehme Sinneseindrücke: Vielfalt ohne Chaos, interessante Details auf Augenhöhe, angenehme, warme Materialien, Überraschendes.
— Identität: Möglichkeiten der Aneignung / individuellen Gestaltung.
— Unterstützung menschlicher Aktivitäten: Raum für vielfältige Aktivitäten wie Lesen, Arbeiten, Essen, Yoga, Gärtnern …
Soziale Bedürfnisse
— Sozialer Austausch: Ähnliche Wertvorstellungen und Begegnungsorte begünstigen die Entstehung von Freundschaften und ein gutes Nachbarschaftsklima.
— Gerechtigkeit: Die, die pflegen und hegen, dürfen auch ernten.
— Bedürfnis nach Privatheit: Schutz vor Fremdaneignung und Kontrolle darüber, was andere von mir hören und sehen.
Die Bewährte: Siedlung Kalkbreite
Nun kennen Sie einige wichtige Faktoren, die beeinflussen, wie gut ein Ort angenommen wird. Somit können wir unseren Spaziergang durch die Aussenräume der Genossenschaft Kalkbreite beginnen. Starten möchte ich mit der Siedlung Kalkbreite. Diese wurde 2014 eröffnet und ist somit das ältere und erfahrenere Gebäude. An ihm wurden Utopien getestet, angepasst und weiterentwickelt. Die Siedlung Kalkbreite bietet die folgenden Aussenräume an:
Der Innenhof und die «Galerie», der Aufgang in Richtung Seebahneinschnitt
Wie eine Oase präsentiert sich der Innenhof der Kalkbreite. Dieser wird umrahmt von den Wohnungen der Bewohner*innen. Dadurch haben diese stets freie Sicht auf das Geschehen im Innenhof, was für soziale Kontrolle sorgt. Die vielfältige Struktur stimuliert die Sinne und lädt zu unterschiedlichen Aktivitäten ein. Es ist ein geschützter Ort, an dem Kinder die Möglichkeit haben, ihren Aktionsradius selbstständig zu erweitern. Die einladende Möblierung trägt zudem dazu bei, sich sozial auszutauschen. Der Aufgang zu den Terrassen der Kalkbreite ist ebenso der Öffentlichkeit zugänglich. Im Gegensatz zum Innenhof ist die soziale Kontrolle hier weniger gegeben, der Zugang ist etwas erschwert, das Klima rauer mit mehr Wind und Sonne und weniger Pflanzen. Solche Orte werden oft von Jugendlichen aufgesucht und bieten ein gewisses Konfliktpotenzial.
Terrassen mit Terrassenküche
Im Gegensatz zum Innenhof ist bei den Terrassen die wahrgenommene Sicherheit tiefer. Obwohl dieser Aussenraum nur gemeinschaftlich von den Genossenschaftsmitgliedern genutzt werden soll, scheint es immer wieder externe Personen und Gruppen zu geben, die sich hierher «verirren». Sie hinterlassen Graffitis an den Wänden oder Abfall. Ein Grund für dieses Problem ist sicherlich, dass die territoriale Abgrenzung (zu) subtil ist. Die angebrachten Trennleinen sind ein leicht zu überwindendes Hindernis.
Der Neuling: Zollhaus
2021 hat das Zollhaus an der Langstrasse seine Tore geöffnet. Es steckt voller neuer Energie, und es können erst Vermutungen angestellt werden, wie was funktionieren wird oder eben nicht. Was aber jetzt schon auffällt: Es herrscht ein reges Treiben, und die Territorien wurden sorgfältig definiert.
Gleisterrasse
Auch das Zollhaus bietet mit der Gleisterrasse eine Oase in einer sehr lauten Umgebung. Zwar ist diese nicht vor dem Zuglärm geschützt, man kann sich dort jedoch hinsetzen, eine Erfrischung an der Bar bestellen und den Zügen beim Vorbeifahren zuschauen. Da es keine Wohnungen im Erdgeschoss des Zollhauses gibt, bleibt zu hoffen, dass die Gleisterrasse auch in den dunklen Stunden des Tages genügend belebt ist, um problematische Verhalten zu vermeiden. Sicher wird es wichtig sein, durch entsprechende Einrichtungen ein angenehmes Mikroklima zu schaffen: im Winter vor kalten Winden und im Sommer vor Hitze zu schützen.
Innenhof
Einige Stockwerke über dem öffentlichen Geschehen des Zollhauses befindet sich im Kopfbau an der Kreuzung Zollstrasse/Langstrasse ein Innenhof. Dieser ist nur für die Bewohner*innen des Zollhauses zugänglich. Durch seine Architektur schützt er vor dem Lärm der Züge und der Langstrasse. In diesem Innenhof finden die Bewohner*innen des Zollhauses einen Ort, wo sie sich untereinander austauschen können. Ebenso sorgt er für ruhige Nächte, denn die Schlafzimmer sind alle auf den Innenhof ausgerichtet.
Dachterrassen
Den höchsten Punkt des Zollhauses bilden die drei Dachterrassen. Sie bieten einen unglaublichen Ausblick über die Stadt und laden zum Nach- denken und Verweilen ein. Zwei Dachterrassen stehen nur den Bewohner*innen des Zollhauses zur Verfügung. Hier wird mit Urban Gardening auf das Bedürfnis nach Aktivitäten eingegangen. Das dritte Dach dient als Spielplatz für den Kindergarten. Auch auf den Dachterrassen wird es wichtig sein, ein angenehmes Mikroklima zu schaffen.
Aussichten auf die Aussenräume
Beide Überbauungen schaffen geschützte, lebendige und innovative Orte mitten in der Stadt. Dadurch trägt die Genossenschaft Kalkbreite zwei wichtige Bausteine zur Zukunft unserer Stadt bei. Vieles wurde aus meiner Sicht richtig gemacht. Die gelebte Gepflogenheit des Ausprobierens, Evaluierens und Anpassens ermöglicht ein stetes Lernen. Eine abschliessende Meinung habe ich aus architekturpsychologischer Sicht zu äussern: Ich kann jene Bewohner*innen der Kalkbreite verstehen, die sich einen Aussenraum wünschen, der wirklich nur ihnen gehört – denn sie teilen schon viel. Einen Ort, den keine unerwünschten Besucher*innen von aussen betreten können, so wie beim Innenhof und bei der Dachterrasse des Zollhauses. Wie die Aussenräume des Zollhauses genutzt werden, wird sich in den kommenden Monaten zeigen. Ich meiner- seits freue mich jetzt schon darauf, bald einen Kaffee auf der Gleisterrasse zu geniessen und den Menschen und Zügen zuschauen zu dürfen.
Die Psychologin Alice Hollenstein ist Co-Geschäftsführerin des Centers for Urban & Real Estate Management (CUREM) an der Universität Zürich und Gründerin von Urban Psychology Consulting & Research. Sie berät Gemeinden und Investoren bei der Entwicklung menschenfreundlicher Gebäude und Städte (JB 2021)
