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16.10.2018Zukunft Zollstrasse: Ruhige Strassen – Nobel leben?

Steigende Mietzinspreise und eine drohende Gentrifizierung als Konsequenz von städtebaulichen Aufwertungsprozessen sind im begehrten Pflaster der Stadt Zürich ein brandaktuelles Thema. In Kooperation mit dem Verein UmverkehR organisierte die Genossenschaft Kalkbreite deshalb eine Podiumsdiskussion mit dem Titel «Ruhige Strassen – nobel leben?». SP Gemeinderätin Simone Brander und Stadtforscher und ETH-Professor  Christian Schmid erörterten darin die Chancen und Gefahren, welche eine Verkehrsberuhigung in städtischen Gebieten mit sich bringt. Anhand der Quartieraufwertungsprojekte West- und Rosengartenstrasse diskutierten die Gäste mit einem interessierten Publikum die Komplexität und Widersprüchlichkeit von städtebaulichen Massnahmen.

Man könnte denken, dass weniger Verkehr in bewohnten städtischen Gegenden für Anwohner*innen wünschenswert ist und zu einer Verbesserung der Lebensqualität führt: Weniger Lärm, weniger Abgas und weniger Gestank. Aber so einfach ist die Rechnung leider nicht. «Man muss sich bewusst sein, was man für ein Risiko eingeht mit Verkehrsberuhigung», meint Christian Schmid. Er erinnert uns an verkehrsberuhigte Innenstädte mit Fussgängerzonen, in denen jegliches Leben wie ausgemerzt scheint. Übertriebene Sanierung und Aufwertung von Stadtquartieren führe mitunter zu lebloser Sterilität. Der Annahme, weniger Verkehr bedeute mehr Lebensqualität, hält er entgegen, dass Lebensqualität eben auch Vielfalt und Dynamik bedeute – und dazu gehöre ein gewisses Mass an Verkehr.

Ein Verfechter des Autos als Bedingung für städtisches Leben ist Christian Schmid nicht. Aber es scheint ihm wichtig, das Auto und den Verkehr als einen von vielen Umweltfaktoren zu akzeptieren, die die Belebung eines Quartiers ausmachen: «Autofreie Strassen sind weder realistisch noch zielführend. Städtische Quartiere brauchen keine absolute Verkehrsberuhigung, sondern eine gute Mischung von verkehrstechnischer Erschliessung und lokalem Quartierleben.»

Verkehrsberuhigung als treibende Kraft der Gentrifizierung

Dass verkehrspolitische Massnahmen zu massiven Verdrängungsprozessen führen können, kann am Beispiel der Weststrasse eindrücklich nachvollzogen werden. Die Verkehrsberuhigung führte dazu, dass die zuvor stark befahrene und zentral gelegene Weststrasse zur begehrten Wohnlage wurde. Gewinnorientierte Immobilienbesitzer erkannten die Chance, investierten in ihre Liegenschaften und zogen nunmehr zahlungskräftige Mieter an. Insgesamt führten die Aufwertungsmassnahmen zu einem  massiven Anstieg der Mietpreise, sodass bisherige Anwohner*innen aus dem Quartier verdrängt wurden. «Aufwertung bedeutet immer auch Abwertung, weil es suggeriert, dass etwas Bestehendes weniger Wert hat», sagt Christian Schmid. Er meint damit, dass ein funktionierendes Quartierleben durch übertriebene Verkehrsberuhigungs- und Aufwertungsprozesse zerstört werden kann: «Eine Stadt wächst im Lauf der Zeit; Pläne auf dem Reisbrett ersetzen keine organisch gewachsenen Quartiere.» Dass städteplanerische Aufwertungen keine rein linearen Prozesse darstellen, sondern auch dynamischen sozialen Entwicklungen unterworfen sind, sieht man am Beispiel des Langstrassequartiers. Städteplanierische Aufwertungsmassnahmen wie zum Beispiel der Umbau der Grünfläche Bäckeranlage sollten das zuvor vom Rotlichtmilieu dominierte Quartier für Familien- und Neuzuzüger attraktiver machen. Mittlerweile aber ist das Langstrassenquartier dermassen zu einem Ausgehviertel geworden, dass es für zahlungskräftige, aber ruhebedürftige Neuzuzüger*innen zum Problem geworden ist. «Das öffentliche urbane Leben sollte Leitplanke sein für die Stadtentwicklung», denn Urbanität bedeutet mitunter auch das Recht zu machen. «Wo Leben ist, ist auch Lärm», meint Christian Schmid dazu. Sei dies nun Verkehrslärm oder Lärm, der von einer lebendigen und dynamischen Bevölkerung ausgeht.

Eindrücklich sind auch die Prognosen, die Gemeinderätin Simone Brander anhand einer sozialräumlichen Studie zum Projekt Rosengartentunnel macht. Der Tunnel soll die stark lärm- und verkehrsbelastete Westtangente zwischen Wipkingen und Zürich Nord entlasten. Doch die prognostizierten Verdrängungen und Mietzinserhöhungen für die anliegenden Wohngebiete sind prekär. Wie bereits an der Weststrasse würden nicht die Anwohner*innen von einer Verkehrsberuhigung profitieren, sondern die Grundeigentümer. Hier lebende Mieter*innen könnten sich ihre Wohnungen schon bald nicht mehr leisten und würden wegziehen müssen. Simone Brander, in ihrer Funktion als gewählte Politikerin, fordert deshalb griffige Lösungen auf kantonaler Ebene, die eine derartige Mehrwertabschöpfung von Grundeigentümer und Immobilienfirmen verhindern könnte. Für die Rosengartenstrasse schlägt sie moderate Lösungen wie allgemeine Temporeduktionen oder Nachtfahrverbote für Schwerverkehr vor, die ebenfalls eine Verkehrsberuhigung und bessere Lebensqualität für Anwohner*innen zur Folge hätten. Eine (übertriebene) Verkehrsberuhigung, wie sie das Projekt Rosengartentunnel ins Auge fasst, würde auch deshalb wenig Sinn machen, weil die Erdgeschosse der direkt an der Rosengartenstrasse liegenden Wohnhäuser nicht darauf ausgelegt sind, öffentlichen Raum zu generieren, führt Christian Schmid aus. Mit Garageneinfahrten und stockwerkhohe Fassaden wenden sich viele Wohnbauten von der stark befahrenen Strasse ab und bilden eine Art Lärmschutzwall für die dahinterliegenden Quartierteile. Insgesamt empfiehlt Christian Schmid kleine Schritte für Quartieraufwertungsprojekte: «Sonst werden die Probleme bloss verlagert oder es werden neue Probleme geschaffen.»

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 Zukunft Zollstrasse

Ergänzend zu den diskutierten Themen am Anlass befragten wir Andreas Billeter wie es diesbezüglich rund um unser Neubauprojekt Zollhaus aussieht:

Andreas Billeter, welche genannten Befürchtungen in Bezug auf Verkehrsberuhigung siehst Du im Hinblick auf die Zollstrasse?

Wir haben die gute Situation, dass die Zollstrasse schon jetzt eine Tempo 30 Zone ist und deshalb keine drastischen verkehrspolitischen Massnahmen getroffen werden müssen. Die Einführung der Tempo 30 Zone auf der nahegelegenen Langstrasse würden wir für das Quartier aber grundsätzlich begrüssen.

In der Diskussion wurde deutlich, dass Aufwertung immer auch Verdrängung bedeuten kann. Insbesondere, wenn bestehende Umweltfaktoren zerstört werden. Wie denkst Du darüber?

Ich finde es wichtig, dass ein Neubauprojekt wie wir es an der Zollstrasse realisieren, nicht gegen bestehende Bedingungen ankämpft, sondern sie so gut als möglich in die Planung integriert. Und ich glaube, dass Mieter*innen, die sich für ein Leben im Zollhaus interessieren, die organisch gewachsene Urbanität dieses Quartiers auch suchen und wollen. Die Lage an der Langstrasse und direkt am Gleisfeld ist hoch urban und sollte bei Interesse an den Wohnungen mitberücksichtig werden.

Text: Aline Diggelmann