12.12.2019Die jungen Wilden – angekommen in der Zukunft?

Am Dienstagabend fand die Veranstaltung „Die jungen Wilden – angekommen in der Zukunft?“ im Rahmen der Ausstellung «Wie wollen wir wohnen? So!» im Museum Bellerive statt, welche die WBG zu ihrem 100-Jahr-Jubiläum organisiert. Ruth Gurny, Präsidentin der Genossenschaft Kalkbreite war eine der vier Podiumsgäste, die zu dem Thema Stellung nahmen.

Der Saal ist bis zum letzten Platz gefüllt. Der Titel «Die jungen Wilden – angekommen in der Zukunft?» scheint viele Leute angesprochen zu haben. Mit dem Titel sind nicht die jungen Wilden von heute gemeint, sondern viel mehr die jungen Wilden von damals, als sich die Genossenschaftsszene in den 80er- und 90er- Jahren neu erfunden hat und die ersten «modernen» Genossenschaften gegründet wurden. Die heute 100-jährige Genossenschaftsszene war damals etwas eingeschlafen und hatte es sich im protestantischen Zürich bequem gemacht, erzählt Andreas Wirz, Moderator dieses Abends. Junge, kritische Leute machten es sich zur Aufgabe, die Genossenschaftsszene zu revolutionieren und erarbeiteten Alternativmodelle zu den bislang herkömmlichen Familienwohnungen, mit grossen Wohn- und kleineren Kinderzimmern, die ihnen für andere Wohnformen oder Wohngemeinschaften ungeeignet erschienen. «Wenn der Kapitalismus nicht will, dann kaufen wir ihn» zitiert Andreas Wirz, damals selber ein junger Wilder und heute Vorstand des Dachverbands Wohnbaugenossenschaften Zürich, die damalige Jugendbewegung. Er begrüsst die Podiumsgäste und fragt, wo die damals und in den dazwischen liegenden Jahren gegründeten «modernen» Genossenschaften denn heute stünden.

Wo stehen die «modernen» Genossenschaften heute?

Seine Gäste sind Ruth Gurny (Präsidentin der Kalkbreite), Philipp Klaus (Vorstandsmitglied von Kraftwerk 1), Claudia Thiesen (Vorstandsmitglied von Mehr als Wohnen) und Fred Frohofer (Co-Präsident von Nena1). Sie alle erläutern den Stand ihrer Genossenschaftsaktivitäten:

Kraftwerk1 plant auf dem Kochareal in Albisrieden derzeit einen Neubau, in dem 160 Wohnungen Platz finden werden. Auch die übrigen Liegenschaften geben viel zu tun. In der bald zwanzigjährigen Siedlung Hardturm beispielsweise wird die Nutzung der gemeinschaftlichen Flächen diskutiert und einige Räume neugestaltet. In der Siedlung Zwicky in Dübendorf ist man daran, die Fassaden klimafreundlicher zu machen, indem die Fassadenbegrünung verbessert wird.
Auch die Genossenschaft Kalkbreite baut derzeit. Das Zollhaus wird 2020/21 eröffnet und befindet sich direkt hinter dem Hauptbahnhof Zürich. «Wir stehen vor einer Zellteilung», beschreibt es Ruth Gurny. „Der Übergang von unserer Genossenschaft mit einer einzigen Liegenschaft auf zwei Siedlungen stellt eine Herausforderung dar: Wir können und wollen nicht einfach „copy paste“ machen, aber wichtige Bestandteile der DNA der Kalkbreite wie Nachhaltigkeit, Partizipation und ein hoher Anteil an Gewerbemietenden, Gastronomiebetrieben und Kulturangeboten nehmen wir unbedingt ins Zollhaus mit“.
Die Genossenschaft Mehr als Wohnen exportiert ihre Erfahrungen derweilen vom Hunzikerareal nach Winterthur. Dort entsteht eine neue Siedlung mit Schwerpunkten beim Clusterwohnen und Baumassnahmen gegen die Klimaveränderung.
Nena1, die jüngste der anwesenden Genossenschaften, konnte bislang noch keine Siedlung realisieren. Verschiedene Projektideen, darunter auch eine Projekteingabe auf dem Kochareal, sind nicht zu Stande gekommen. Trotzdem wird Fred Frohofer auch an diesem Abend nicht müde, die Visionen von Nena1 zu vermitteln und dafür zu werben. Nena1 verfolgt radikal andere Ansätze des ökonomischen Wirtschaftens – das Teilen mit der Nachbarschaft wird hier grossgeschrieben. Und zwar nicht nur räumlich; auch zum Beispiel der Einkauf von Lebensmitteln soll genossenschaftlich koordiniert werden.

Mitwirkung und Partizipation

Die Idee von Partizipation, so Andreas Wirz, sei ja, dass man gemeinsam schlau ist. Dabei wird das gemeinsame Interesse höher gewertet als die Einzelinteressen. Von seinen Gästen will er wissen, inwiefern Mitwirkung und Partizipation im Alltag der Genossenschaften gelebt wird.
Ruth Gurny nennt einige Beispiele aus der Kalkbreite. Zentral ist sicher der Gemeinrat im Wohn- und Gewerbebau Kalkbreite, das Mitbestimmungsorgan, das einmal monatlich tagt. Fürs Zollhaus werden im nächsten Jahr mit den zukünftigen Nutzer*innen ähnliche Strukturen erarbeitet. Aktuell wird das Organisationsreglement in einer partizipativen Arbeitsgruppe, bestehend aus Vorstandmitgliedern, Genossenschafter*innen und Mitarbeiter*innen aus der Geschäftsstelle überarbeitet . Wichtig für die Partizipation sei, dass entsprechende Gefässe und Möglichkeiten immer wieder angeboten und gefördert werden: «Wir wissen, dass auch Organisationen der jungen Wilden Gefahr laufen zu erstarren. Da müssen wir gemeinsam dagegenhalten.»
Bei Kraftwerk1 funktionieren die Strukturen der Selbstorganisation und Partizipation insbesondere in den Siedlungen Hardturm und Heizenholz bestens, berichtet Philipp Klaus. Aufmerksamkeit seitens der Geschäftsstelle brauche einzig die neue Siedlung Zwicky-Süd. Da gehe es darum, Strukturen für Partizipation zu ermöglich, aufzubauen und zu festigen. Die Genossenschaft organisiert auch Veranstaltungen mit allen Siedlungen zusammen. «So können Bewohner*innen von anderen Siedlungen lernen und von deren Erfahrungen profitieren», erklärt Philipp Klaus.
Anders sieht das Claudia Thiesen von Mehr als Wohnen: Mit einem verbalen Seitenhieb zu Ruth Gurny stellt sie die Erwartungshaltung nach Partizipation der Bewohner*innen in Frage: «Genossenschaften sollten offen sein für alle – auch für jene, die keine Zeit oder keine Lust haben, über Hasenställe zu diskutieren», föppelt sie. Hohe Erwartungen oder gar starre Vorstellungen von Partizipation führen ihrer Meinung nach dazu, dass Genossenschaften eine homogene Gruppe von Genossenschafter*innen haben, die genau das suchen und wollen. Insbesondere kleine Genossenschaften würden Gefahr laufen, dass sie sich thematisch nur um sich selber drehen. Bei Mehr als Wohnen würden viele Entscheide «top-down» gefällt, denn längst nicht alles eigne sich zur Mitwirkung! Stattdessen stellen sie ihren Mietenden Raum und Geld zur Verfügung, mit denen Nachbarschaftsinitiativen realisiert werden können, was gemäss Claudia Thiesen gut funktioniere.
Den Vorwurf, eine homogene Genossenschaft zu sein, lässt Ruth Gurny nicht lange auf sich sitzen. Sie verweist auf die Durchmischungskriterien, nach denen die Wohnungen bei der Kalkbreite vergeben werden und die dafür sorgen, dass unterschiedlichste Bevölkerungsgruppen in den Genossenschaftssiedlungen zu wohnen kommen.
Auch bei Nena1 wird die Partizipation hochgehalten – jeden Monat finden offene Veranstaltung zu diversen Themen rund ums Wohnen und Leben statt. «Aus uns sieben Genossenschaftsgründer sind in den letzten paar Jahren 250 Genossenschafter*innen geworden, von denen sich viele auch in Arbeitsgruppen engagieren», erzählt Fred Frohofer. Darauf reagiert Andreas Wirz spitzfindig, er fände es schon komisch von «uns» und «denen» zu reden, sollte doch eine Genossenschaft ein «wir» sein? «Natürlich ist man als Genossenschaft prädestiniert für partizipative Strukturen, schliesslich ist man viel näher bei seinen Mitgliedern als herkömmliche Immobilienverwalter, um Fragen zu Lebensstilen oder Themen der Nachhaltigkeit zu diskutieren», sagt Fred Frohofer, «aber man muss auch aufpassen, dass man keine lauwarmen Partizipationsveranstaltungen durchführt. Es braucht immer ein paar Vordenker, die mit ihren Ideen neue Wege aufzeigen und andere motivieren, diese mitzugehen.» Nena1 ist aus Neustadt Schweiz hervorgegangen – die Genossenschaftsgründer*innen haben ein Konzept zum nachhaltigen und gemeinschaftlichen Wohnen entwickelt und damit viele Leute begeistern können. Und sobald sie ein tatsächliches Bauprojekt in Aussicht haben, werden es noch sehr viele mehr sein, davon ist Fred Frohofer überzeugt.
Philipp Klaus macht darauf aufmerksam, dass ein Konzept nie abschliessend sei: «Wir müssen immer weiter diskutieren.» Natürlich seien einmal verabschiedete Richtlinien wertvoll, aber die Zeit ändern sich und somit die Ansprüche – nicht zuletzt die Herausforderungen des nachhaltigen Bauens. Deshalb sei es wichtig, Partizipation laufend zu pflegen und lebendig zu behalten.
Auch Ruth Gurny spricht sich für kontinuierliche Partizipationsprozesse aus und verweist auf die Ziele der 2000-Watt-Areal-Zertifizierung, die ständig neue und kreative Massnahmen erfordern. «Sehr wertvoll ist in diesem Zusammenhang die Bewohner*innengruppe „Leicht Leben“, die mit alltagstauglichen Vorschlägen ihre Mitbewohner*innen zum nachhaltigen Handeln motivieren».
Es sei einfach wichtig, die Genossenschafter*innen auf dem Weg in die Zukunft nicht zu vergessen, meint Claudia Thiesen. In der Projektierung habe man immer super Ideen, aber man könne die Genossenschafter*innen nicht zwingen, diese umzusetzen. «Man kann Möglichkeiten bieten und Vorbild sein; aber Genossenschaften können die Welt auch nicht alleine retten!»

Hallenwohnen und Rohbaumieten

Die Genossenschaft Kalkbreite plant im Zollhaus das sogenannte Hallenwohnen und auch bei Kraftwerk1 wird es im Kochareal Wohnungen geben, die im Rohbau vermietet und von den Mietenden selber ausgebaut werden können. «Was soll das, ist euch langweilig?» fragt Andreas Wirz, überrascht ob dem neuen Wohntrend, der sich hier abzeichnet und fragt zynisch: «Näher zur Selbstverwirklichung dank Spanplatten aus dem Jumbo?». Auch Claudia Thiesen verdreht darüber die Augen, schliesslich sei das Hallenwohnen doch nicht neu, sondern in der Besetzerszene schon vor 20 Jahren gemacht worden: «Warum muss man immer Neues ausprobieren statt Kontinuität zu gewährleisten und bestehendes weiterzuentwickeln? Es gäbe wahrlich andere Themen, die Aufmerksamkeit bedürfen, zum Beispiel die Frage der Ressourcenschonung oder die Stadt als gemeinsamer Lebensraum gestalten.»
Das Hallen- oder Rohbauwohnen käme als Ergebnis tatsächlich aus der Besetzerszene, sagt Philipp Klaus: «Es ist ein Anliegen von jenen, die heute (noch) jung & wild sind und ihre Bedürfnisse bei den Genossenschaften einbringen.»
Auch Ruth Gurny ist überzeugt, dass es sich lohnt, das Modell Hallenwohnen im Zollhaus zu verwirklichen. Sie wartet mit einer ganzen Reihe von Argumenten auf:
Erstens erlaube das Hallenwohnen, Räume noch effizienter zu nutzen; mit temporären Zwischenböden für Schlaf- oder Arbeitsplätze könne Fläche gespart werden. Zweitens erlaube es eine individuelle Aneignung des Wohnraums im so genannten Edelrohbau – wobei das keineswegs edel sei, sondern eher spartanisch –, denn schliesslich heisse Wohnen auch Aneignen. Und Drittens können Genossenschaften Labors für neue Wohntrend sein, weil sie die Freiheit haben, nicht renditeorientiert wirtschaften zu müssen. Hier könnten unterschiedliche Lebensgewohnheiten und Bedürfnisse abgeholt werden und zum Ausdruck kommen.
Auch Fred Frohofer findet es wichtig, dass Genossenschaften neue Wohnmodelle entwickeln und ausprobieren und Alternativen bieten zu den herkömmlichen Familienwohnungen. «Mit den Grosshaushalten und Clusterwohnung wurde das bereits gemacht, aber es ist noch viel mehr möglich – warum nicht Wohnungen mit Etagenduschen?», schlägt Fred Frohofer vor uns erntet dafür Raunen im Publikum.
Ruth Gurny ergänzt, dass man auch über den eigentlichen Wohnraum hinausdenken müsse. Die Kalkbreite nenne sich bewusst nicht Wohnbaugenossenschaft sondern Genossenschaft, weil alle Aspekte des Lebens – also Kultur, Arbeiten und Wohnen – eine Rolle spielen sollen. «Eine Siedlung muss eine Bereicherung für das Quartier sein, nicht allein für die Bewohner*innen». Die Kalkbreite erachte es als wichtig, neben Wohnraum auch gastronomische und kulturelle Angebote sowie Dienstleistungen zu ermöglichen, die das gemeinschaftliche Leben fördern und Begegnungszonen schaffen. Insbesondere bei Neubauten, die unweigerlich zu einer Gentrifizierung beitragen, müsse das Quartier mitgedacht werden.

Der Abend schliesst mit einer Fragerunde, in der Fragen von der Finanzierung junger Genossenschaften bis zum Flächenverbrauch einer Clusterwohnung gestellt und kompetent beantwortet werden. Auf die Frage, ob auch schon mal etwas ausprobiert worden und schiefgelaufen sei, erzählt Claudia Thiesen abschliessend die Anekdote, dass sie in einer Siedlung eine Regenwassernutzung für Waschmaschinen eingebaut hatten – worauf die Wäsche aller Bewohner*innen rosa geworden ist.

«Es gibt also noch viel auszuprobieren – denn wir sind vielleicht in der Zukunft, aber längst nicht am Ende angelangt!», schliesst Andreas Wirz den aufschlussreichen Abend.

 

Text: Aline Diggelmann